Montag, 24. April 2017

Gastrezension von jenvo82 zu Heute leben wir von Emmanuelle Pirotte




Preis: € 20,00 [D]
Einband:Hardcover
Seitenanzahl: 288
Altersempfehlung: -
Verlag: S. Fischer
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„Damit das Spiel perfekt, das heißt ausgeglichen lief, mussten die Guten und die Bösen spiegelbildlich zueinander existieren. Es musste schlicht und einfach die Guten und die Bösen geben.“
Inhalt
Der deutsche Soldat Matthias schlägt sich in den letzten Tagen des Krieges als ein getarnter amerikanischer Soldat der Mission „Greif“ durch und plant weitere Menschen zu töten, egal wie sinnlos seine Bemühungen auch sein mögen. Denn innerlich hat er längst mit den Idealen des Nationalsozialismus abgeschlossen, er ist sich sicher, dass Hitlerdeutschland seinem politischen Ende entgegenstrebt. Als ihm durch Zufall ein kleines, jüdisches Mädchen anvertraut wird, ändert sich für ihn von Grund auf alles. Er kann Renée, die mutige Jüdin mit dem durchdringenden Blick einfach nicht töten, sondern wählt stattdessen seinen Kameraden. Fortan ist er sich seiner Gefühle nicht mehr sicher, denn sein einst abgebrühter, automatisierter Tötungsmechanismus gerät ins Wanken und weicht zugunsten eines ungekannten Beschützerinstinktes. Er schreibt es sich auf die Fahne, das Mädchen irgendwie durch den Krieg zu bringen, ihr Überleben zu sichern und irgendwann von vorn anzufangen. Doch Matthias gerät in Gefahr, als ihn die Amerikaner als das entlarven, was er wirklich ist. Ein Soldat, der auf der falschen Seite steht und keineswegs überleben darf …
Meinung
Diese Romanvorlage der französischen Autorin Emmanuelle Pirotte wird bereits 2017 verfilmt. Sie verarbeitet in ihrem Debütroman die autobiografischen Erzählungen ihrer Großeltern, die im zweiten Weltkrieg selbst eine Jüdin vor den Deutschen versteckt hielten. Diese innere Beteiligung, die Identifikation mit dem Verlauf der Geschichte merkt man der Erzählung an.
Auf sehr ungewöhnliche und intensive Art und Weise setzt die Autorin eine zwischenmenschliche Beziehung in den Fokus der Erzählung und verpackt ganz nebenbei wichtige historische Fakten in der geschaffenen Rahmenhandlung. Dieser Aspekt hat mir ausgesprochen gut gefallen, denn anders als in klassischen Romanen deren Handlung sich mit dem Kriegsgeschehen beschäftigt, steht hier ein desillusionierter Soldat und sein Leben im Vordergrund. Es ist in erster Linie eine Charakterstudie über Entwurzelung, Einsamkeit und Lebensabkehr, die erst durch den menschlichen Faktor eine Änderung einschlägt und wieder Hoffnung schöpft. Hoffnung auf ein Leben abseits von Krieg, Zerstörung und Mangel, abseits von fragwürdigen politischen Überzeugungen und sinnlosen Vernichtungsmanövern.
Matthias ist ein Individualist, der nichts beschönigt, der einst aus eigener Überzeugung in die Kriegsmaschinerie Deutschlands eintrat und jahrelang zur Marionette des Bösen wurde, dennoch versinkt er weder in Selbstmitleid noch verspürt er Reue über seine tödlichen Handlungen. Vielmehr überdenkt er seine Aktionen und stellt alles unter ein lobenswertes persönliches Ziel: die Rettung einer unschuldigen Seele. Der Leser erlebt die Beziehung zwischen Matthias und Renée als faszinierend anders, seltsam intensiv und nur intuitiv greifbar, denn das Geheimnis, warum der Soldat gerade dieses kleine Mädchen verschont, bleibt im Ungewissen.
Auch die Nebenfiguren, die in der Geschichte verankert sind, bekommen eine gewichtige Ausprägung. Menschen, denen ihre Rechte genommen wurden, die aber dennoch charakterstark und ausdauernd für ihr persönliches Umfeld eintreten. Menschen, die sich ferngehalten haben vom System Hitler und seinen bösartigen Auswüchsen und die nichts weiter wollen, als ihren Frieden auf Erden. Menschen, die den Leser mit ihren Ansichten überzeugen, weil sie konsequent und ehrbar handeln.
Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen intensiven, spannenden Roman, der historische Fakten und psychologische Überlegungen gekonnt vereint. Eine Erzählung, die den Leser gefangen nimmt und immer etwas mysteriös bleibt. Gerade so als könne man nicht jeden Menschen einschätzen, weil es zu viele Unbekannte in seinem Charakterbild gibt. Lobenswert finde ich hier auch die sachliche Erzählweise, der es trotz der geschilderten Untaten gelingt, immer objektiv und nicht wertend aufzutreten. Ein Roman, der nicht mit den Emotionen des Lesers spielt und diese dennoch herausfordert.

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